70 n. Chr.: Zerstörung der Tempelanlage in Jerusalem und endgültige Niederschlagung des jüdischen Aufstandes gegen die Römischen Besatzer

26. Februar 2022 n. Chr.: Versuch der Unterwerfung der Ukrainer Bürger

Seit Ende November 2021 schreibe ich am 2. Teil des Buches „Wen Jesus berührt“. Das, was ich gestern zu Papier brachte, besitzt einen so ungeheuerlichen Bezug zu dem, was gerade in Kiew vor sich geht, dass ich mich entschlossen habe, einen Teil davon vorab zu veröffentlichen. Darin schildert der römische Bogenschütze Quintus, den der Lesende aus dem 1. Teil des Buches kennt, sein traumatisches Erleben der endgültigen Zerschlagung des jüdischen Widerstands gegen die römische Besatzungsmacht, die ihren Höhepunkt in der Zerstörung der Tempelanlage findet.

Heute wie damals stellten die Menschen die Frage nach dem ‚Warum‘. Der Phönizier Hamilkar gibt  eine Erklärung, die nicht nur damals heilsam für Olivia und den römischen Kämpfer war, sondern auch uns einen Weg zeigt, weg von der Verurteilung einzelner Personen zurück in das Vertrauen in die Vorsehung Gottes zu kommen.

Zum besseren Verständnis: Es ist ein Gespräch, das bei der Wiederbegegnung zwischen Olivia und ihrem früheren Beschützer Quintus stattfindet.

Der Ort: Eine Herberge im von Römern immer noch besetzten Phönizien, die überfüllt ist mit Reisenden, die ein heftiger Regenschauer überraschte.

Der Zeitpunkt: Es ist das Jahr 90 n. Chr., also 20 Jahre nach der Zerstörung des Tempels.

Die Ich-Erzählerin ist Olivia, die gemeinsam mit ihrem Gemahl die Herberge betreibt.

Der römische Soldat Quintus schildert seiner Landsmännin, was ihm seit zwei Jahrzehnten den inneren Frieden raubt:

„Der römische Kaiser hatte die Eroberung der Heiligen Stadt der Juden angeordnet – und die Zerstörung des Tempels. Es folgten Monate, ja Jahre des brutalen Kämpfens. Auf dem Weg nach Jerusalem ließen unzählige Menschen ihr Leben: Juden wie Römer. Einmal gerieten wir in einen Hinterhalt. Wir Bogenschützen ritten in erster Reihe, als uns ein Hagel von Steingeschossen traf, geschleudert von jungen Juden. Manius, der neben mir ritt, wurde im Gesicht von einem Stein getroffen und stürzte vom Pferd. Ich sprang unverzüglich ab, um ihm zu Hilfe zu kommen. Da stürmte aus dem nahen Gebüsch ein Jugendlicher auf Manius zu, beugte sich über ihn und holte aus, um ihm mit einer Axt den Kopf zu zertrümmern. Mir blieb keine Zeit, den Bogen zu spannen. So ergriff ich einen meiner Pfeile und rammte ihn, im letzten Moment, seitlich in den Hals des Angreifers.“

Quintus brach die Stimme. Er schlug beide Hände vor die Augen und schluchzte laut auf. Ich nahm ihn tröstend in meine Arme und wiegte ihn lange hin und her, wie ich es mit einem kleinen Kind getan hätte. Mein Mitgefühl war unbeschreiblich.

Endlich hatte er sich so weit gefasst, um weitersprechen zu können: „Olivia, ich tötete einen Menschen, der nicht älter war als ich! Dem ich nie zuvor begegnet war, der mir selbst nichts getan hatte, sondern für die Freiheit seines Volkes kämpfte. Damals blieb mir keine Zeit zu überlegen, denn der Kampf ging weiter. Unsere Kameraden kamen uns zu Hilfe und schlugen den Angriff nieder. Ich kümmerte mich um Manius und brachte ihn in Sicherheit. Schon damals ahnten wir beide, dass er niemals mehr den Bogen spannen würde. Er hatte sein rechtes Augenlicht verloren! Lucianus sorgte dafür, dass er in einem Lazarett bestens versorgt wurde und schickte ihn dann nach Rom zurück. Monate später erreichte uns die Nachricht, dass er, finanziell gut versorgt, bei einem seiner Brüder untergekommen war.“

Wieder legte er eine Pause ein. Die Erinnerungen hatten ihn ermüdet. Meine Neugier war größer als mein Mitgefühl, so dass ich schon bald fragte: „Was wurde aus Lucianus und Maia?“

Das Wichtigste sprach er zuerst aus: „Auch sie sind in Rom. Doch zuvor ging der brutale Krieg weiter. Wir rückten drei Jahre lang vor, konnten uns zwischendurch immer wieder einige Wochen lang erholen und neu sammeln. Dann standen wir vor Jerusalems Toren. Die Juden leisteten erbitterten Widerstand. Ich diente immer noch unter Lucianus, der schon lange keinen Sinn mehr in der Eroberung der Stadt sah. Dennoch war er gezwungen, das Heer anzuführen. – Olivia, bis dahin hatte ich nur einen einzigen Mann getötet: Jenen, der Manius erschlagen wollte. Beim entscheidenden Angriff auf den Tempel wurde ich zum Todesengel! Mein Verstand war ausgeschaltet; es ging nur noch um das eigene Überleben. Mit dem Schwert in der Hand tat ich Schritt für Schritt, Schlag auf Schlag. Der Tempelvorhof versank in einer Flut menschlichen Blutes. Dann, als der Tempel bereits brannte und die Juden erkannten, dass sie verloren hatten, wurden wir Zeugen eines Blutbads, das nichts Menschliches mehr hatte: Die überlebenden Juden warfen ihre Waffen zu Boden und stürzten sich freiwillig in unsere Schwerter! Andere erschlugen sich gegenseitig, rammten sich selbst die Waffen in die Leiber oder stürzten sich in die Flammen. Nach der Zerstörung ihres Heiligtums schien es für sie sinnlos weiterzuleben.“

Seine Augen starrten in das Leere. Nein, sie sahen die Bilder, die ihn seit mehr als zwanzig Jahren verfolgten.

‚Quintus, mein Bruder, was musstest du erleben, erdulden, erleiden?‘ Ich weinte bittere Tränen des Mitgefühls. Nun war es an ihm, mich tröstend in die Arme zu nehmen.

 ‚Warum? Warum mussten immer wieder Menschen, die sich vorher nie begegnet waren, auf die zu Hause Angehörige warteten, die um sie bangten, gegeneinander kämpfen? Sich grausam abschlachten? Nur, weil irgendwo machthungrige Herrscher saßen und unsinnige, unmenschliche Befehle gaben? Warum?‘

 Wir hatten beide nicht bemerkt, dass Hamilkar das Zimmer betreten und wohl schon eine Weile schweigend zugehört hatte. Nun kam er auf uns zu, setzte sich zu uns und sprach leise: „Ich weiß, dass ihr die Frage nach dem ‚Warum‘ stellt. Sie raubt euch den inneren Frieden, will eine Antwort durch die Benennung eines Schuldigen. Das ist menschlich verständlich und vermag für kurze Zeit den Schmerz und die Wut zu lindern. Doch bedenkt: Über allem, auch über dem Schlimmsten, steht die Vorsehung Gottes. Alles, was wir nicht verstehen können, ist ein Zwischenergebnis, das erst den nächsten Schritt möglich macht. Und jeder nächste Schritt, den uns Gott ermöglicht, führt die Menschen ein Stück näher zur Erkenntnis, was wirklich wichtig ist im Leben: Das Miteinander, das Mitgefühl, die Fürsorge dem Nächsten gegenüber. Die Liebe ist das Einzige, das eine Seele aus dem begrenzten Dasein mitnehmen kann. Alle Macht, aller weltlicher Reichtum, aller Ruhm vergehen. Gott hat diese Welt erschaffen und überspannt sie mit einem allumfassenden Regenbogen aus Liebe und Vertrauen, damit sie ein Ort ist, aus dem aus Fremden, ja aus Feinden, Freunde werden. Das, was wir in unserer Herberge im Kleinen leben, jeden Tag aufs Neue, ist der große Menschheitsauftrag! Weder du, Quintus, noch Olivia oder ich können die Welt ändern. Doch wir können mit den Menschen neben uns die Liebe und das Vertrauen teilen, die wir selbst von Gott so überreich geschenkt bekommen.“

Quintus und ich hatten seinen erinnernden, weisen und heilsamen Worten gelauscht. Der Römer erhob sich und reichte dem Phönizier die Hand. Dazu sprach er bewegt: „Hamilkar, ich danke Euch. Ihr habt eben das Rechte zur rechten Zeit zu mir gesprochen. Ich nehme es als Auftrag mit, wenn ich meinen Weg fortsetze. Es gab für mich eine Zeit zu kämpfen, zu hadern, ja zu verzweifeln. Eure Worte geben mir Zuversicht, dass nun eine Zeit des Verzeihens, auch mir selbst gegenüber, anbricht. Der Gott, Der über allem steht, möge Euch segnen, Euch und Eure Gemahlin, die ich liebe wie eine Schwester.“

Hamilkar neigte sein Haupt zur Seite und nickte. Er ergriff die angebotene Hand des Römers, beließ es allerdings nicht bei einem Händedruck, sondern bot dem anderen die Verbrüderung an. Überrascht nahm es Quintus an. Die Kette der Bruderschaft, ausgeübt von einem Mitglied der Besatzer und einem Mitglied der Besetzten, bewies, dass ein liebendes Miteinander möglich war!

Genau in diesem Augenblick ließ der Regen nach und die Sonne kämpfte sich durch die dunklen Wolken. Ohne den sichtbaren Beweis durch einen Blick aus dem Fenster zu benötigen, wussten wir, dass ein wunderschöner Regenbogen sich nicht nur über dem ‚Haus des Gastes‘, in dem Fremde zu Freunden wurden, spannte, sondern das ganze Tal mit seiner strahlenden Farbenpracht übergoss.

© Ingrid Lipowsky

So Gott will, kann ich den 2. Teil von Olivias Niederschrift im Herbst 2022 in eure Hände legen.

In schwesterlicher Liebe, tief im Vertrauen in die Vorsehung Gottes verankert

Ingrid.